
Es ist spät, ich sitze auf dem Flughafen in Johannesburg und warte darauf, dass es weitergeht nach Amsterdam, dann nach Hannover. Um 22 Uhr haben alle Läden geschlossen, viele Leute liegen auf den Stühlen und schlafen. Der Flug hat über eine Stunde Verspätung, es wird erst um 1 Uhr losgehen.

Der Flug hierher von Kapstadt war sehr beeindruckend, fast als streiften wir die kahlen, felsigen Berge. Besonders mit den abendlichen Schatten zeichnen sich die Kanten und die tiefen Täler sehr deutlich ab.
Aber zurück zum Anfang. Diese Nacht habe ich mit einer Mücke gekämpft, die Mücke hat gewonnen. Immer wieder kurz vor dem Einschlafen summte sie mir ins eine oder andere Ohr. Lieber hätte ich gehabt, sie hätte einfach gleich einmal gestochen, aber das konnte ich ihr nicht erklären. Mit dem Sonnenaufgang habe ich dann das Frühstück auf der Terrasse vorgezogen, habe gepackt und mich dann noch etwas zu Michaela, meiner Gastgeberin gesetzt.

Pünktlich kurz nach neun bellt der Hund, Gilbert und Renate stehen unten und nehmen mich samt Koffer und allem mit nach Philippi. Diesmal ist es die andere Seite: am Rand zwischen Farmland und Township liegt das Gelände der ehemals deutschen, jetzt überwiegend Afrikaans-sprachigen Kirche mit Pfarrhaus, Gemeindesaal und ehemaliger Grundschule. Heute ist Kirchentag – die anderen lutherischen Gemeinden der Kapkirche in und um Kapstadt haben heute ihre Gottesdienste ausfallen lassen zugunsten des gemeinsamen Festes hier in Philippi.

Wie in vielen kleinen Gemeinden werde ich gleich anderen vorgestellt, komme ins Gespräch, schon vor dem Gottesdienst.

Das Thema des Kirchentages ist das Land. Politisch ganz oben auf der Tagesordnung ist es wichtig, sich neu der Frage nach Besitz und Land zu nähern. Michael Denner, der Pastor dort, predigt über Josua, über das Land der Zukunft. Die Kinder sind vorher mit einem persönlichen Segen in den Kindergottesdienst verabschiedet worden, die Konfis zum Konfirmandenunterricht. Gesungen werden bekannte Lieder aus dem deutschen Gesangbuch, aber die Sprachen (Afrikaans, Englisch, Deutsch) wechseln sich ab. Die Liturgie ist auch komplett so, wie wir sie kennen – nur eben Englisch oder Afrikaans. Abendmahl wird gefeiert (viel öfter als bei uns), man kann ein kleines Glas nehmen als Alternative zum Kelch.
Nach dem Gottesdienst gibt es Tee im Gemeindesaal, und dann „Table Talk“. Drei ausgezeichnete Impulse sind vorbereitet, darüber soll dann an den Tischen gesprochen werden. Leider hat das nicht geklappt.

Arthur Becker, den ich schon in PE kennen gelernt habe, stellt kurz die Geschichte der deutschen Siedler in Südafrika dar. Die ersten kamen schon mit den Holländern im 17. Jhd im Dienst der Ostindien Kompanie. Sie sollten sich um Gemüseanbau für die Händler kümmern. Dann, im 19. Jhd, kamen dicht hintereinander die British -German Legion (die im Krimkrieg doch nicht mehr gebraucht wurden) und überwiegend pommersche Tagelöhner und jüngere Bauernsöhne. Ihnen hatte man viel versprochen. Vor allem das eigene Land lockte sie: mit harter Arbeit etwas aufbauen zu können ohne von irgendjemandem abhängig zu sein. Die meisten erhielten Land im Ostkap, wo sie zwischen Engländern und Xhosa einen Puffer darstellen sollten. Ihre Dörfer , so hoffte man, würden den noch nomadisch lebenden Xhosa Lust auf Sesshaftigkeit machen.

In der Kap-Ebene war das Konzept anders. Sandig war der Boden und es wurde doch für die hereinkommenden Schiffe und für die wachsende Stadt Nahrung gebraucht. Erst hatte man Iren herbeigeholt, die aber unter Mitnahme der bereitgestellten Gerätschaften verschwanden, weil sie lieber für die Eisenbahn arbeiteten. Mit den Deutschen – denen dann kein Gerät mehr gestellt wurde – lief es anders. Sie arbeiteten hart, mussten sogar noch Zoll zahlen für die Lebensmittel, die sie in die Stadt brachten. Und das Erstaunliche gelang: mit guten Kompostierung und viel Ausdauer konnten die deutschen Farmer dem sandigen Boden Gemüse abgewinnen und es 20km weit bis in die Stadt transportieren. Meistens geschah das auf Handkarren oder sogar mit dem Joch getragen. Den Holländern ging es ähnlich. Es erstaunt daher nicht, dass die lutherische Kirche irgendwann die Afrikanns-sprache mit annahm. Und es erstaunt leider auch nicht, dass Neid aufkam, der dazu beitrug, dass die deutschen Kinder in der Schule als ‚bloody Germans‘ beschimpft wurden.
Als zweiter sprach ein Vertreter des Verbandes der Landwirte. Auch er erzählte von dem harten Landleben, von der Hingabe an gute Pflege der Erde, der Tiere und der Pflanzen, an Lebensmittelproduktion und Nachhaltigkeit. Er schilderte die schwierige Lage der Farmer, denen bei der Einführung der Apartheid auch oft der mühsam erwirtschaftete Hof zwangs-abgekauft wurde, so dass sie irgendwo anders wieder von Neuem anfangen mussten. Auch hier führen der Druck, immer größer zu werden, und die mangelnde Begeisterung der jüngeren Generation für das Landleben zur Reduktion der landwirtschaftlichen Betriebe. Außerdem wird immer mehr Land in der Nähe der Großstadt für Siedlungen gebraucht. Hier in den Cape Flats waren über 50 Farmen, jetzt sind es 18.

Schließlich hören wir Dr Braam Hanekom, den ehemaligen Moderator (Päsident) der Dutch Reformed Church und jetzt Direktor des Centre for Public Witness (also christliches Zeugnis in der Öffentlichkeit). Auf möglichst verbindliche und werbende Weise versucht er, die radikale Botschaft der Bibel deutlich zu machen: das Land gehört Gott. Privatbesitzt und sein Schutz haben in der Bibel keine wirklichen Verteidiger, während gemeinsamer Nutzen, Gerechtigkeit, Balance eine große Rolle spielen. Er erinnert an das Sabbat-Jahr (das vermutlich nie konsequent durchgeführt wurde), das alles durch Schulden etc verkaufte Land wieder an die ursprünglichen Bewohner zurückfallen lässt. Ist die Wirtschaft gerecht, wenn sie jetzt gleiche Chancen gibt? Die Last der Geschichte ist nicht so einfach zu beseitigen. Dr Hanekom malt uns das Bild vom Monopoly-Spiel, bei dem ein Spieler erst nach der vierten Runde einsteigen darf, wenn schon fast alle Grundstücke verkauft sind. So etwa geht es der schwarzen Bevölkerung.
Eine Rückfrage aus dem Publikum macht deutlich, wie wenig das im Bewusstsein vieler Menschen ist. Eine ältere Dame fragt, wer denn den Schwarzen den Landbesitz verboten hätte? Die Antwort ist klar: das Gesetz. Seit 1913! Das Schlimme ist, dass so viel umverteiltes Land anschließend völlig vernachlässigt wurde, Bäume sind abgestorben, der Acker lag brach. Genauso wie im leergeräumten District Six nichts wirklich gebaut wurde. Die Zerstörung der gewachsenen Gemeinschaften und des Wissens um Land und Anbau ist eine lang wirkende Katastrophe.
Es blieb – nach einem intensiven Plädoyer von Cynthia – die Aufgabe, sich gegenseitig die eigene Geschichte zu erzählen und die Geschichte der anderen auszuhalten. Bischof Filter stellte das gleich als Aufgabe für die anschließenden Gespräche am Grill oder an den Tische: sprecht mit jemandem den ihr noch nicht kennt.
Schade, dass dafür nicht wirklich der Rahmen gesteckt war. Stattdessen saßen die Philippi-Gemeindeglieder unter den Bäumen, die Gäste von außerhalb an langen Tischen in der Halle. Jeder hatte das eigene Essen mitgebracht, einer sogar den eigenen Grill. Man merkt, wie schwierig und groß die Herausforderung ist, die Gott uns zumutet.

Von Gilbert Filter und seiner Frau Renate verabschiede ich mich dann, denn Pastor Matome Sadiki und seine Frau Christine nehmen mich noch mit zu sich nach Hause. Schnell freunde ich mich mit den beiden Mädchen an, die so alt sind wie meine Enkelinnen. Matome gehörte ursprünglich der ELCSA an aber als die Familie nach dem Ende des Apartheidregimes in ein besseres (ehemals weißes) Wohngebiet zog, wechselte sie auch in die dort aktive lutherische Gemeinde. So ist er zur Zeit der einzige schwarze Pastor in einer immer noch überwiegend europäisch geprägten Gemeinde.
Matibela kommt noch mit, ein Gemeindeglied aus der Belville-Gemeinde. Ich hatte schon in der Kirche neben ihm gesessen und seine sehr beindruckende und auch nicht untypische Geschichte gehört.
Der Telekommunikationstechniker und seine Frau haben zwei Kinder, die jetzt im Studienalter sind. Vor zwei Jahren etwa starb die Schwester der Frau, und da der Vater der Kinder kein Interesse hatte und die Großeltern überfordert waren, haben Matibela und seine Frau die beiden Kinder zu sich genommen. Diese Kinder hatten bisher mehr Süßigkeiten als Aufmerksamkeit bekommen. Sie lernen jetzt gezielter in der Schule und auch sonst eigene Anstrengung einzubringen, sie lernen auch, sich auf Unterstützung von zuhause zu verlassen.
Im Herbst 2017 beschäftigte die Familie eine Haushaltshilfe, die mit ihren vier Kindern auf Arbeitssuche war. Die Mutter der Kinder verschwand allerdings nach einer Woche – und ließ ihre Kinder zurück. Nach vielen Wochen kam sie wieder, schwer krank (HIV) und starb sehr bald. Nun hat die Familien noch vier weitere Kinder zu versorgen, Kinder, die bisher auf der Straße gelebt haben, nie in der Schule waren, die gewohnt sind sich mit jedem Essen den Bauch voll zu schlagen und alles Geld, das sie sehen, zu klauen. Ganz langsam lernen die Kinder, dass es nach dieser Mahlzeit noch eine geben wird. Das mit dem Klauen wird noch länger dauern…. Für die Kinder gibt es nur das staatliche Kindergeld, ansonsten muss die neue Familie für alles aufkommen, inklusive Schulgeld (es gibt in Südafrika keine kostenlosen Schulen).

Gegen Abend beginnt die lange Heimreise mit Flug nach Johannesburg (2 Stunden), von dort nach Amsterdam (10,5 Stunden), dann bei heftigem Wind und mit viel Geschaukele weiter nach Hannover (50 Minuten), von dort mit der Bahn nach Stadthagen, wo mein Mann mich abholt. Seitdem überschütte ich ihn mit Geschichten, Erlebnissen, Fragen und Gedanken – ihn und alle, denen ich begegne. Das wird wohl noch eine Weile so weiter gehen. Ein paar der Gedanken, Fragen und Anstöße von der Reise werde ich in den nächsten Tagen noch in diesem Blog veröffentlichen, ehe ich ihn abschließe.

Vielen Dank erst einmal Euch allen, die Ihr mich begleitet habt!